
GdB 70 bei Autismus-Spektrum-Störung
Viele Eltern autistischer Kinder kennen das: Die Diagnose ist eindeutig, der Alltag eine tägliche Herausforderung – und trotzdem erkennt das Versorgungsamt den Unterstützungsbedarf nicht vollständig an. Die Feststellung eines zu niedrigen Grades der Behinderung (GdB) ist im Bereich der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) leider kein Einzelfall. Dabei hängt von dieser Einschätzung vieles ab: finanzielle Entlastungen, Nachteilsausgleiche in der Schule, Zugang zu Unterstützungsleistungen und vor allem – die Anerkennung der Lebensrealität des Kindes.
Ein von unserer Kanzlei betreuter Fall zeigt, wie Behörden bei der Einschätzung des GdB oft zu kurz greifen: Ein 2012 geborener Junge, der an einer ausgeprägten Autismus-Spektrum-Störung, ADHS und starker motorischer Unruhe leidet, erhielt trotz massiver Beeinträchtigungen nur einen GdB von 50. Begründet wurde dies mit einer ärztlichen Stellungnahme „nach Aktenlage“. Eine persönliche Untersuchung oder fundierte Einschätzung des sozialen Umfelds erfolgte nicht. Die tatsächlichen Probleme – ständige Schulwechsel, Konzentrationsstörungen, emotionale Ausbrüche, soziale Isolation und die Notwendigkeit einer Einzelbetreuung – blieben außen vor.
Eltern schilderten eindrucksvoll: Ihr Sohn ist hochintelligent, aber leicht überfordert. Er zeigt kaum Empathie, kann keine Freundschaften knüpfen, spricht oft wie ein Erwachsener, aber ohne Gespür für soziale Regeln. Kleinste Veränderungen im Alltag lösen bei ihm Panik, Wut oder Rückzug aus. In der Schule kommt es regelmäßig zu Wutanfällen, Weinkrämpfen oder aggressivem Verhalten – nicht aus Trotz, sondern aus Überforderung. Gleichzeitig leidet das Kind unter Ängsten, Rückzugstendenzen, Schlafproblemen und psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Magenweh.
All dies sind typische Symptome bei Autismus-Spektrum-Störungen, die laut Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) erheblich in die Beurteilung des GdB einfließen müssen. Dort heißt es ausdrücklich: Je nach Schwere der sozialen Anpassungsschwierigkeiten liegt der GdB zwischen 10 und 100 – bei „mittleren“ Schwierigkeiten z. B. bereits zwischen 50 und 70, bei „schweren“ zwischen 80 und 100.
Nach unserer Klage vor dem Sozialgericht Landshut (Az. S 9 SB 587/24) wurde im gerichtlichen Vergleich am 1.10.2025 schließlich ein GdB von 70 rückwirkend ab 2017 anerkannt. Ein klarer Fortschritt – und ein wichtiges Signal für betroffene Familien.
Wenn Ihr Kind also durch Autismus stark beeinträchtigt ist – sei es im Kindergarten, in der Schule oder zu Hause – und Sie nur einen GdB von 30, 40 oder 50 erhalten haben: Lassen Sie den Bescheid unbedingt juristisch überprüfen. Auch eine rückwirkende Anerkennung ist möglich, etwa wenn ein besonderes Interesse vorliegt, z. B. wegen steuerlicher Entlastungen.
Autismus ist nicht gleich Autismus – und auch ein GdB ist keine rein rechnerische Größe. Es kommt auf das Gesamtbild an: auf das Verhalten des Kindes, seine Teilhabemöglichkeiten und den tatsächlichen Förderbedarf. Wer hier nicht kämpft, verschenkt oft Jahre an wichtigen Unterstützungsleistungen – auf Kosten des Kindes.