Wendepunkt 109
Im medizinisch geprägten Sozialrecht ist neben juristischer Fachkompetenz häufig auch medizinische Fachkompetenz streitentscheidend. Insbesondere medizinische Sachverständigengutachten haben für den Ausgang des Verfahrens höchste Bedeutung. Die Sozialgerichte bringen Sachverständigengutachten auf medizinischem Gebiet üblicherweise großes Vertrauen entgegen und übernehmen den Inhalt oft unkritisch, oft mit der formelhaften Begründung, das Gutachten sei nachvollziehbar und widerspruchsfrei. Ist ein Gutachten für den Mandanten negativ, bestätigt es also die medizinischen Leistungsvoraussetzungen nicht, beispielsweise die medizinischen Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung, ist aufgrund des unkritischen Umgangs der Sozialgerichte mit Sachverständigengutachten oft davon auszugehen, dass ein Prozess verloren wird. In manchen Fällen hilft eine stichhaltige Argumentation und Stellungnahme gegen das Gutachten, etwa wenn der Sachverständige seinem Gutachten einen falschen Sachverhalt zugrunde legt, formelle Voraussetzungen eines ordnungsgemäßen Gerichtsgutachtens nicht einhält, der offenkundig fachlich ungeeignet ist, der sich als befangen erweist oder seinen Auftrag überschreitet. in vielen Fällen gelingt es aber nicht, ein medizinisches Gutachten mit juristischen Mitteln im Ergebnis zu entkräften.
Um dieses Problem zu lösen, gibt das SGG dem Kläger in einem Sozialgerichtsverfahren die Möglichkeit, zu beantragen, einen bestimmten Arzt gutachterlich zu hören (§ 109 SGG). Ein solches Gutachten nach § 109 SGG kann, wenn es zu einem anderen Ergebnis kommt als das Erstgutachten, eine Wendung im Prozess herbeiführen und das Klageverfahren in die Erfolgsspur (zurück) bringen.
Das sich Sachverständigengutachten widersprechen können, mithin ein Antrag nach § 109 SGG Sinn macht, zeigt ein aktueller Rentenrechtsstreit aus der Kanzlei (Sozialgericht Regensburg - Az. S 10 R 56/20).
Unsere Mandantin leidet an vielfältigen körperlichen Beeinträchtigungen, insbesondere auf orthopädischem Fachgebiet. Trotzdem gelangte der erste, vom Sozialgericht ausgewählte Gutachter zu dem Ergebnis, unsere Mandantin sei noch in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig erwerbstätig zu sein. Nachdem das Gutachten keine juristischen Angriffspunkte lieferte, wurde ein Antrag nach § 109 SGG gestellt. Mit der Gutachtenserstellung nach § 109 SGG wurde ein Orthopäde aus Burg Langenfeld beauftragt. Dieser gelangte in seinem Gutachten zu einem völlig anderen Ergebnis als der Erstgutachter. Er gelangte zu dem Ergebnis, unsere Mandantin sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr in der Lage, eine nennenswerte Arbeitsleistung zu erbringen. Er bestätigte somit die medizinischen Voraussetzungen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI). Für unsere Mandantin ein sehr erfreuliches Ergebnis, das nunmehr hoffentlich auch den Ausgang des Prozesses bestimmen wird.